Lean Prinzip 2: Den aktuellen Prozess verstehen

Dem ersten Lean Prinzip, zunächst den Wert einer Leistung aus Sicht des Kunden (extern wie intern) zu definieren, folgt das zweite Prinzip: Verstehe den Wertstrom. Dahinter steckt letztlich folgendes: Wenn man Geschäftsprozesse wirklich verbessern will, muss man die Prozesse zunächst aus Perspektive der Arbeitsaufträge (= Objekte) verstehen und mit der Kundenbrille ein gemeinsames Verständnis für Wertschöpfung entwickeln. Ansonsten droht man, orientierungslos in Verbesserungsaktionismus zu verfallen. Und man sollte dabei auch nicht vergessen, die Menschen wertzuschätzen, die in den Prozessen arbeiten.


In der Fertigung und Montage werden alle Materialströme und damit zusammenhängenden Informationsflüsse sowie Steuerungsmechanismen abgebildet, einschließlich detaillierter Messgrößen, wie Zykluszeit, Rüstzeit, Verfügbarkeit und Ausschuss. „Go and see“ lautet das Credo beim Aufnehmen eines Wertstromes, um die Arbeitsschritte zu verstehen und Engpässe im Prozess zu identifizieren. Zwar gibt es administrative Prozesse, die – ähnlich wie industrielle Prozesse – in kurzen Zyklen ablaufen, hauptsächlich manuelle Schritte beinhalten, eindeutigen, erklärbaren Regeln folgen und ein vorhersehbares, bewertbares Arbeitsergebnis erzeugen (z. B. Auftragsbearbeitung für Standardprodukte, der Rechnungsdurchlauf, eine Datenerfassung). Bei solchen Prozessen stehen PRODUKTIVITÄT und EFFIZIENZ im Vordergrund. Das heißt, es geht darum, einen möglichst großen Durchsatz zu schaffen bzw. ein vorgegebenes Resultat mit einem möglichst geringen Einsatz von Ressourcen zu erzielen.

 

Aber es gibt eben auch die reine Wissensarbeit, bei der eher qualitative Aspekte bzw. die EFFEKTIVITÄT der Arbeitsschritte und der Kommunikation im Vordergrund stehen. Effektiv zu arbeiten bedeutet, das Richtige zu tun, damit ein bestmögliches (in der Regel noch unbekanntes) Ergebnis bzw. eine größtmögliche Wirkung erreicht wird. Bei der Wissensarbeit erfolgt die Leistungserstellung nicht in Händen oder Maschinen, sondern vorwiegend in den Köpfen der beteiligten Menschen und ist daher von unvorhersehbaren Wechselwirkungen abhängig. So lässt sich etwa das gedankliche Erfassen eines komplexen Sachverhaltes, die Entwicklung von Konzepten oder die Entscheidungsfindung bei einer vielschichtigen Fragestellung kaum beobachten, messen oder in enge Zeit- und Mengenraster einordnen, geschweige denn in wertschöpfende und nicht wertschöpfende Anteile unterscheiden. Legen Sie das Augenmerk eher auf die Rahmenbedingungen und die Schnittstellen: Ist die Kommunikation klar? Sind alle Informationen und Systeme verfügbar, die zur bestmöglichen Aufgabenbearbeitung erforderlich sind? Ist im gegebenen Arbeitsumfeld sowohl ein konzentrierter Arbeitsfluss als auch eine cross-funktionale, vernetzte Zusammenarbeit möglich?

Werte und Verschwendung entstehen in Office-Prozessen meist im Verborgenen

In der Fertigung können wir das Material in der Regel einem Wertstrom zuordnen, physisch verfolgen und Engpässe in Form von Warte-/Liegezeiten und Beständen direkt erkennen. In der Büro- und Wissensarbeit, in der die Wertströme nicht so (be-)greifbar sind wie in Fertigungs- oder Logistikprozessen, ist man auf Aussagen und Schätzungen angewiesen. Dabei wird man immer viele verschiedene Aussagen zu einem Prozess hören – wie der Ablauf ist, wie er sein sollte und natürlich was zu tun wäre. Aber es sind eben oft nur Meinungen, bei denen von einem Teilausschnitt aufs Ganze geschlossen wird. Die Aufgabe des Beraters oder Moderators ist es, mit den Beteiligten ein gemeinsames Bild zu zeichnen.

Wertstrom und Informationsflüsse verlaufen bei Office-Prozessen meist im Verborgenen. 


Bei Office-Prozessen ist zudem folgendes zu beachten: Der Weg von Vorgängen selten linear und nicht so klar nachvollziehbar. Der Prozess der Angebotserstellung beginnt beispielsweise beim Vertrieb, geht zur Machbarkeitsprüfung durch die Konstruktion und die Fertigungsplanung,  ggf. auch durch den Einkauf, um die Preise für Zukaufteile zu klären, und endet wieder im Vertrieb, wo das Angebot geschrieben wird. Dazwischen gibt es möglicherweise weitere iterative Schleifen, mehrfach durch die gleichen Hände (bzw. Köpfe). Die zu diesem Wertstrom gehörenden Arbeitsvorgänge und Informationen sind oftmals verstreut, verstecken sich möglicherweise in aufgeblähten Postfächern und Zwischenablagen, in prall gefüllten To-Do-Listen oder in den endlosen Weiten des Datendschungels. Denn im Gegensatz zu Materiallägern und –puffern stößt man bei EDV-Speichern kaum an physische Grenzen. 

 

In vielen Fällen muss man sich vom Anspruchsdenken verabschieden, ein Prozessmodell mit eindeutiger Abfolge und einem berechenbaren Zahlengerüst zu erhalten. Das hält nur im Labor stand. Die Herausforderung bei Office- und Wissensprozessen liegt vielmehr darin, Schnittstellen und Beziehungen sowie Kommunikations- und Informationsflüsse in ihrer Vielfältigkeit – das heißt mit allen Medienbrüchen und Schleifen – und zugleich nachvollziehbar darzustellen. Daher ist es wichtig, bei der Methodenwahl und vor allem bei der Durchführung das Ziel im Blick zu behalten (Was will / muss man darstellen? Was ist nicht zielführend?) und auf Augenhöhe mit den im Prozess beteiligten Mitarbeitern zu bleiben. Denn Sie sind auf ihre Mitwirkung angewiesen.