Mitarbeitende und Kunden im Blick behalten - statt Optimierungswahn mit der Kostenbrille

Diese Skizze habe ich in einer stillen Stunde aufs Flipchart gebracht. Ich hole es in manchen Prozessoptimierungs- und Kaizen-Workshops hervor, wenn wir nach einer gemeinsamen Orientierung suchen. Die Flipchart-Zeichnung zeigt das Bürogebäude eines Beispielunternehmens im Querschnitt - eine Perspektive, die den meisten verwehrt bleibt. Was wir sehen, sind einerseits wartende, verärgerte Kunden (unten rechts im Bild) und andererseits ein mehr oder minder munteres Treiben in den Büros und Besprechungsräumen des Unternehmens. Das eine hat mit dem anderen nur indirekt etwas zu tun. Und genau das ist das Problem. „Was habe ich denn mit Kunden zu tun?“, sagen viele gestresste Menschen, insbesondere in unterstützenden oder strategischen Bereichen. Dort ist man für Service, Governance und Management zuständig, aber eben nur im Hinblick auf Strukturen, Prozesse und Menschen innerhalb der Unternehmensgrenzen. Wozu gibt es denn schließlich den Vertrieb, die Call-Center, den Kundendienst und die Abteilung, die eigens für die Bearbeitung der Reklamationen geschaffen wurde? 


Unternehmen, die mit Verbesserungsprogrammen nur abteilungsbezogene Kostensenkungsziele verfolgen und die Qualitätsverbesserungen ausschließlich punktuell vornehmen, riskieren eine „Sub-Optimierung“ einzelner Bereiche, die nie beim Kunden und den einzelnen Mitarbeitern ankommt. Es kann sich sogar gegenteilig entwickeln: Silodenken und Konkurrenzdruck innerhalb des Unternehmens lenken den Blick sowohl vom Kunden als auch von den Belangen der Kollegen weg und führen dazu, dass noch mehr Ressourcen für "Trouble-Shooting", Kontrolle und Absicherung eingesetzt werden. Für systematische und nachhaltige Problemlösungen, kontinuierliche Verbesserungen und strategisch wichtige Innovationsprozesse, bleibt dann keine Zeit. Genau daran setzen ja Lean Management und Kaizen an.

Lean Prinzip 1: Definiere den Wert einer Leistung aus Sicht des Kunden!

Vor jeder Prozessanalyse stelle ich daher immer einige Fragen, unter anderem: Wer sind denn die Kunden Ihres Prozesses? Was erwarten sie?

 

Die Antwort auf diese Fragen fällt den meisten auch leicht – sofern es um die physischen Produkte ihrer direkten Herstellungsprozesse geht.


Sobald sich aber die Frage nach den konkreten Kundenwerten bzw. -wünschen auf indirekte Leistungen des Unternehmens bezieht, fallen die Antworten oft vage oder sogar widersprüchlich aus. Und häufig basieren sie nur auf Mutmaßungen. Nehmen wir als Beispiel die Angebotsanfragen bei einem mittelständischen Hersteller von Industriemöbeln: Stehen beim Kunden tatsächlich eine schnelle Antwort und ein niedriger Angebotspreis ganz oben auf der Erwartungsliste, wie es der Vertrieb mutmaßt? Oder ist ihm eine gute Beratung und eine zuverlässige Aussage zur Lieferzeit noch viel wichtiger? Dazu ist es erforderlich, auf die Stimme der Kunden zu hören und daraus konkrete Anforderungen zu formulieren, zu denen sich das Unternehmen entscheiden muss, welche Anforderungen es bedienen will und welche nicht. 

Für unterstützende Bereiche, wie etwa IT, Personal, Einkauf oder auch Controlling, bedeutet dies, sich zunächst darüber im Klaren zu sein, welchen Beitrag sie zum großen Ganzen, also zur Wertschöpfung im Unternehmen, leisten. 

In der Praxis hilft oft ein Perspektivenwechsel: Stellen Sie sich vor, Ihre Abteilung sei ein Laden, der im Schaufenster oder auf der Internetseite für seine Produkte und Dienstleistungen werben müsste. Wie würden Sie Ihre Produkte/Dienstleistungen und den Kundennutzen beschreiben? Und welchen Nutzen hat davon am Ende der Kunde?

 

Wer an dieser Stelle sorgfältig ist, dem fällt es anschließend beim Befolgen des zweiten Lean Prinzips ("Verstehe den Wertstrom.") auch leichter, bisher für selbstverständlich gehaltene Prozess-Schritte und Tätigkeiten zu hinterfragen, wie etwa Freigabeprozeduren, das Schreiben von E-Mails, das Erstellen von Berichten und Präsentationen oder das Kopieren und Ablegen von Dokumenten. 

 

Das entscheidende ist jedoch, dass durch die Kundenperspektive ein prozessorientiertes und unternehmerisches Selbstverständnis gefördert wird. Interne Dienstleister entwickeln sich vom Erfüller von Dienstaufträgen ("Wir erfüllen (nur) einen Programmierauftrag.") hin zu einem Unterstützer ("Wir stellen Informationssysteme bereit, die helfen, dem Kunden jederzeit Auskunft geben zu können."). Governance-Funktionen sind bei Prozess- und Produktinnovationen weniger bremsende Bedenkenträger, sondern vielmehr konstruktive Ermöglicher. Das heißt aber gleichzeitig, dass dem Auftraggeber interner Leistungen auch kritische Fragen gestellt werden können, z. B.: "Welchen konkreten Nutzen hat der Kunde von dieser zusätzlichen Funktion?"

 

Organisationen, die das Prinzip des Kundenwerts verinnerlicht haben, vermeiden die Verschwendung von wertvollen Ressourcen für so manches unnütze Projekt. Auf der anderen Seite ist mehr Zeit, Energie und nicht zuletzt Geld da, den wirklich wichtigen Dingen Aufmerksamkeit zu widmen, wie etwa Produktinnovation oder Prozessverbesserungen, die sich vielleicht nicht in der nächsten Quartalsbilanz wiederfinden, aber das Unternehmen nachhaltig voranbringen und die Mitarbeitenden langfristig entlasten und weiterentwickeln.