
Bevor ein bestehender Prozess digitalisiert wird, sollte immer der Wertstrom zunächst (z. B. mittels Value Stream Mapping oder Makigami) erfasst und dann nach den Lean Prinzipien optimiert werden. Das hat mich meine langjährige Erfahrung als Lean Berater gelehrt.
Denn erst wenn ich mit beteiligten Personen mittels Wertstromanalyse oder Makigami den Prozess aufgenommen habe, wie er tatsächlich in der Betriebspraxis abläuft - mit allen „Haken und Ösen“, wie ich gerne sage, sehen wir die Schwachstellen und Probleme (ergo: Verbesserungspotenziale), die darin schlummern, z. B.:
- Rückschleifen aufgrund fehlender oder unklarer Informationen
- aufwändige manuelle Arbeitsschritte
- Medien- / Systembrüche, die händische Mehrfacherfassungen bzw. -übertragungen von Daten mit sich bringen
- Warte- und Liegezeiten, die zu Verzögerungen führen
- überflüssige Dokumente
- usw.
Erst wenn wir dieses gemeinsame Bild vom IST-Prozess haben, können wir auch hinterfragen, welche Prozess-Schritte, Dokumente etc. wir weglassen, zusammenfassen, vereinfachen und ggf. digitalisieren oder automatisieren wollen, können oder müssen.
Auf dieser Basis entwickeln wir einen SOLL-Prozess, der schlanker (effizienter, schneller, besser, sicherer, stabiler) ist und den beteiligten Mitarbeitenden zugleich mehr Raum geben, ihre Zeit, Fähigkeiten und Kompetenzen effektiver einzubringen.
Spätestens hier holen wir auch die IT-Experten mit an Bord, um die technischen Möglichkeiten voll auszuschöpfen, die das vorhandene ERP-System, Robotic Process Automation (RPA), KI und Collaboration-Tools bieten, um den SOLL-Prozess umzusetzen und einen digitalen Workflow zu realisieren.
Wenn hingegen digitalisierte Prozesse, ERP-Systeme oder Tools aus IT-Perspektive designt und implementiert und den Fachbereichen quasi übergestülpt werden, bewahrheitet sich oftmals die plakative und provokante Aussage von Thorsten Dirks aus dem Jahr 2015:
„Wenn Sie einen scheiß Prozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiß digitalen Prozess.“
Diese Erfahrung habe ich bereits seit den 2000er-Jahren immer wieder bei der Optimierung von Prozessen gemacht. Nicht selten offenbarte der aufgenommene IST-Prozess, dass manuelle Mehraufwände bestehen blieben oder sogar neu erschaffen wurden, z. B.:
Bypässe, weil das System oder die digitalen Applikationen nicht die betrieblichen Erfordernisse abbilden
- Freigabeschleifen bzw. Quality Gates aus Angst vor Kontrollverlust
- Excel-Listen, um die Übersicht zu behalten
- Rückfragen per E-Mail, Chat oder Telefon, weil Informationen fehlen
Deshalb:
„ERST Prozesse gestalten, DANN die IT einschalten!“
Diese Worte sind mir mal in einem Lean-Workshop über die Lippen gekommen, die aufgrund des zufälligen Reims zu meinem Credo wurden.